Inhaltsverzeichnis
Handreichung zu den Einträgen des Lärmprojekts im ‚Compendium Sonicum‘
Das Projekt „Lärm vor Dezibel“
Eine wesentliche Datengrundlage des Compendium Sonicum stellt der Thesaurus sonorum molestorum dar. Dieser basiert auf der Belegsammlung des DFG-Projektes „Lärm vor Dezibel“ (https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/463346728). Das am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte des Historischen Instituts der RWTH Aachen University angesiedelte Projekt untersuchte Wahrnehmungs- und Deutungsprozesse störender Laute in der mittelalterlichen Klangwelt sowie den Einsatz lautbezogener Sprache zur Beschreibung von „Lärm“-Situation mit dem Ziel, erste Grundlagen für eine Semantik störender Laute zu legen. Dahinter steht die Annahme, dass „Lärm“ das Produkt einer Bewertung eines akustischen Reizes als störend ist, die wesentlich durch individuelle Einstellungen sowie den sozialen und kulturellen Zuschnitt der jeweiligen Gesellschaft bestimmt ist. Dieser fundamentale Vorgang soziokulturell geformter Bewertung lässt die Mühle am Bach wahlweise idyllisch rotieren oder nervenaufreibend klappern, macht aus Kinderlachen entweder Glücksgefühl oder Ruhestörung – (fast) egal, ob laut oder leise. Zentral für die Qualifizierung eines Lautes als „Lärm“ ist, ob jener im Rahmen der Situation, in der wir uns gerade befinden, oder genauer: der Handlung, die wir gerade ausführen, angemessen ist oder nicht. Lärm kann in diesem Sinne als sound out of place verstanden werden: Geschrei war als Alarmsignal auf dem Schlachtfeld nicht nur angemessen, sondern transportierte auch eine eindeutige Botschaft; im klösterlichen Scriptorium war es wiederum vollkommen fehl am Platze. „Lärm“ als Laut mit Störungsqualität, als unerwünschtes akustisches Ereignis ist aus dieser Perspektive wiederum so alt wie der Mensch in seiner Beziehung zur Umwelt und auch für die Zeiten „vor Dezibel“ zu untersuchen, in denen akustischen Messverfahren mit ihren Maß- und Regulierungskulturen noch nicht existierten.
Mit der Markierung eines Lautes als akustische Störung, als sound out of place positioniert sich die hörende Person darüber hinaus sozial, drückt Akzeptanz oder eher: Ablehnung aus. Ein sound out of place stört immer auch die (reale oder bisweilen auch ideale) Ordnung und bildet damit zudem ein handhabbares binäres Schema zur fokussierten Untersuchung einer nur über Sprache zugänglichen und potenziell endlosen mittelalterlichen Klangwelt.
Das Störpotenzial von Lauten innerhalb dieser mittelalterlichen Klangwelt respektive das Schreiben darüber wurde im Projekt in zwei Teilprojekten mit komplementärer Quellenauswahl untersucht: 1) „Lärm wahrnehmen und beschreiben“ und 2) „Lärm wahrnehmen und normieren“. Im Rahmen beider Teilprojekte erfolgte eine Belegsammlung sprachlich formulierter Lärmwahrnehmung, -deutung und -regulierung.
Teilprojekt 1: „Lärm wahrnehmen und beschreiben“ (Bearbeiterin: Julia Samp)
Die Belege zum Teilprojekt „Lärm wahrnehmen und beschreiben“ – bearbeitet von Julia Samp (JS) – stammen aus überwiegend lateinischen, teils volkssprachlichen Pilgerreiseberichten des späten Mittelalters. Im Fokus steht dabei die Pilgerreiseliteratur Felix Fabris (1437/8–1502) zu seinen zwei Jerusalemfahrten in den Jahren 1480 und 1483/4: Das Gereimte Pilgerbüchlein, das Evagatorium in Terrae sanctae, Arabiae et Aegypti peregrinationem, Die Eigentlich beschreibung der hin und widerfarth zu dem Heyligen Landt, Die Sionpilger. Ebenfalls von Felix Fabri geschrieben und vergleichend als Beispiel einer anderen Textsorte hinzugezogen wird der Tractatus de civitate Ulmensi.
Teilprojekt 2: „Lärm wahrnehmen und normieren“ (Bearbeiterin: Margret Scharrer)
Die Belege zum Teilprojekt „Lärm wahrnehmen und normieren“ – bearbeitet von Margret Scharrer (MS) – stammen aus deutschsprachigen städtischen Ordnungen des ausgehenden Mittelalters zwischen dem 13. und Mitte des 16. Jahrhunderts. Besonders in den Blick genommen wurden in Editionen und Regesten zugängliche Ordnungen und Beschlüsse der Städte Köln, Nürnberg und Frankfurt am Main. Ergänzend hinzu treten vor allem noch weitere oberrheinische Städte.
Liste der Städte
- Amorbach
- Colmar
- Eisenach
- Frankfurt am Main
- Heidelberg
- Isny
- Köln
- Konstanz
- Ladenburg
- Lauda
- Leutkirch
- Limburg
- Marburg
- Mosbach
- Nürnberg
- Ravensburg
- Reichenweier
- Salzburg
- Schaffhausen
- Schlettstadt (Sélestat)
- Straßburg
- Überlingen
- Ulm
- Villingen
- Würzburg
- Zürich
Der Thesaurus sonorum molestorum
Die daraus hervorgegangene Belegsammlung des Thesaurus sonorum molestorum bietet ein kommentiertes Vokabularium störender Geräusche aus den bearbeiteten soziokulturellen Kontexten bzw. Textsorten. Die in den Quellen dafür genannten geräuschbezogenen Ausdrücke werden hier gesammelt und kommentiert, indem diese über die folgenden Kategorien in ihrer Kontextgebundenheit eingeordnet und in ihrer Semantik erläutert werden:
- Lautwort: aufgeführt in der Originalsprache in der Grundform des Wortes.
- Textstelle: basierend auf der einschlägigen Edition in der Originalsprache bzw. nach dem Wortlaut des Regests.
- Übersetzung: wird nur aufgeführt, wenn vorhanden; es werden keine von den Bearbeitenden erstellten Übersetzungen angeführt.
- Quellenart: nennt die Textsorte.
- Situativer Kontext: ordnet das in der Textstelle genannte Ereignis in den konkreten situativen Kontext ein.
- Zeitlicher Kontext: nennt den Entstehungszeitraum des Textes.
- Kommentar: liefert weiterführende Erläuterungen und Angaben zu spezifischen Lautphänomenen.
Aufgrund der damit erfolgenden kontextbezogenen Einordnungen und semantischen Erläuterungen bietet die Belegsammlung einen Zugriff auf die sprachlich-deutende Einkleidung der Wahrnehmung störender Geräusche und die dafür grundlegende soziokulturell geprägte Bewertung von Geräuschen. Das Vokabularium erhebt keinen Anspruch, eine umfassende Sammlung und Kommentierung störender Geräusche zu sein, sondern bietet eine exemplarische Sondierung des Phänomens. Damit liefert es die Grundlage für weiterführende Untersuchungen unter ergänzenden Fragestellungen bzw. anhand alternativer Textcorpora.
